Nehmen wir an, dieses Bild erscheint auf der Titelseite der Tageszeitung und darunter steht die Schlagzeile „Großdemonstration in Venedig„. Wir sind offensichtilich in Venedig, wie an den Palazzi im Hintergrund erkennbar. Das Foto könnte in der Nähe der Rialto-Brücke aufgenommen worden sein. Wir sehen viele Menschen, die dichtgedrängt stehen. Also alles in Ordnung, oder?

Was sehen wir wirklich?

Um es vorweg zu sagen: Ja, die Aufnahme wurde in Venedig an der Rialto-Brücke gemacht. Aber es zeigt nur den ganz normalen Besucherstrom an einem Wochenende während des Karnevals.

In Kombination mit einem Text wie „Großdemonstration in Venedig“ wird aber impliziert, dass sich hier geradezu riesige Menschenmassen aufhalten. Tatsächlich sind aber, abgesehen von den Personen auf der Treppe oben rechts im Bild, nur 14 verschiedene Personen wirklich erkennbar. Da die Personen links und rechts im Bild angeschnitten sind, ist nicht erkennbar, wie weit sich die „Menschenmassen“ tatsächlich nach rechts und links erstrecken. Und da die Aufnahme etwa auf Schulterhöhe des Mannes im Vordergrund entstanden ist, wird auch der Blick in die Tiefe des Bildes verstellt. Es könnte also sein, dass sich hinter den tatsächlich erkennbaren Menschen sehr viele weitere verbergen. Oder eben nicht. Aber unser Gehirn ergänzt problemlos die fehlenden Informationen und kommt zu dem Schluss, dass hier tatsächlich sehr viele Menschen zu sehen sind.

Eine kleine Geschite aus vordigitaler Zeit

Da das Beispiel oben vielleicht ein wenig theoretisch klingt, möchte ich eine kleine, selbst erlebte Geschichte erzählen.

Als ich noch als abhängig Beschäftigter bei einer Bremer Luft- und Raumfahrtfirma tätig war, kam ich eines Tages in die Teeküche, um mir ein Heißgetränk zuzubereiten. Dabei hörte ich lautes Rufen von draußen. Beim Blick aus dem Fenster, das in Richtung auf das Haupttor der Firma ausgerichtet war, sah ich eine Gruppe von ca. 40 bis 50 Menschen mit Transparenten und einen Mann mit einem Megaphon.

Zum Hintergrund: Damals wurden in dem Werk Rumpfmittelteile für Tornado Kampflugzeuge gefertigt. Die vor dem Werkstor versammelten Menschen demonstrierten gegen die Rüstungsproduktion in Bremen.

Soweit ist das nicht weiter bemerkenswert. Als ich jedoch am nächsten morgen den Weser Kurier (DIE Bremer Tageszeitung) aufschlug, sah ich ein Foto ähnlich dem Aufmacherfoto für diesen Beitrag. Man sah die Rücken einiger Personen und ein paar Transparente. Darunter die Schlagzeile, man ahnt es, „Großdemonstration bei MBB“.

Ging es hier wirklich um dieselbe Veranstaltung, die ich von der Teeküche aus beobachtet hatte? Ja, es ging! Da hatte sich ein Häuflein versprengter Rüstungsgegner vor dem Werkstor versammelt und dann wurde daraus über Nacht eine Großdemonstration…

Das war nur möglich, weil das Foto geschickt aufgenommen worden war (rechts und links angeschnitten, aus Schulterhöhe aufgenommen, siehe oben) und dann mit einem entsprechenden Text (Großdemonstration) versehen wurde.

Ein Bild kann also auch ganz ohne digitale Manipulation lügen.

Abbild und Wirklichkeit

Ein Foto zeigt nie die Wirklichkeit. Bestenfalls zeigt es einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit. Schon bei der Wahl des Bildausschnitts legt der Fotograf fest, was er dem Betrachter zeigt und, vielleicht noch wichtiger, was er ihm nicht zeigt. Aber natürlich endet es nicht dabei. Die persönlichen Vorstellungen und die Weltsicht des Fotografen fließen immer mit in das Foto ein. Der eine möchte eher die Schönheit der Welt zeigen, der andere das Elend, der dritte vielleicht nur die komischen Momente des Lebens.

Vielleicht am Wichtigsten ist jedoch, in welchem Kontext ein Foto verwendet wird. Ein und dasselbe Bild kann so zwei diametral entgegen gesetzte Theorien unterstützen.

Wer mehr zu dem Thema wissen möchte, findet in diesem Beitrag der Badischen Zeitung eine gute Einführung (man muss sich allerdings registrieren).

 

Ich freue mich über Eure Gedanken zu dem Thema.