Ein Trend in der digitalen Fotografie ist zur Zeit „Out of cam“ oder auch kurz OOC. Nie gehört? Das ist das neue Qualitätsmerkmal für digitale Fotos, denn es bedeutet, die Bilder sind unbearbeitet. Nicht manipuliert. Echt. Sie zeigen die Welt so wie sie ist. So wie wir früher den Rand des Negativs mit auf das Fotopapier belichtet haben, um zu zeigen, dass das Bild nicht beschnitten wurde.
Unbearbeitet?
Ich behaupte, nicht zum ersten mal, dass es keine unbearbeiteten Fotos gibt. Jedes digitale Bild durchläuft ja bereits in der Kamera eine Bildbearbeitung, die je nach eingestelltem Bildstil mehr oder weniger stark ausfällt. Wer seine Fotos also „Out of cam“ benutzt, überlässt die Bildbearbeitung schlicht und einfach dem japanischen (indischen?) Programmierer der Kamera-Firmware, ist also nur zu faul, es selbst zu machen. Das ist nicht schlimm! Viele Schwarz-Weiß Fotografen früherer Tage haben ihre Abzüge nicht selbst gemacht. Sie hatten dafür einen „Printer“, also einen Dunkelkammerespezialisten, der die Abzüge nach Absprache mit dem Fotografen hergestellt hat. Helmut Newton z.B. hatte einen Printer, mit dem er viele Jahre zusammengearbeitet hat. Aber er hätte sicherlich nicht behauptet, seine Fotos seien OOC.
Und RAW-Daten?
Wenn ich behauptet habe, dass digitale Bilder in der Kamera bearbeitet werden, dann gilt das natürlich primär für JPG-Dateien. Aber auch RAW-Daten müssen vom Rohdatenkonverter „interpretiert“ werden, bevor wir sie am Bildschirm betrachten können. Da wir Menschen Helligkeiten logarithmisch wahrnehmen, ein digitaler Sensor aber linear, muss das digitale Bild zunächst an die menschliche Wahrnehmung angepasst werden. Das ist eine der Aufgaben, die ein Rohdatenkonverter ungefragt erledigt, wenn wir eine RAW-Datei öffnen. Ohne diese Anpassung wären die Bilder viel zu dunkel und zu flau. Man kann sich leicht vorstellen, dass es bei dieser Anpassung an die menschliche Wahrnehmung einen nicht unerheblichen Spielraum gibt. Das gilt auch für die Wiedergabe von Farben. Man kann sich leicht davon überzeugen, wenn man dasselbe Bild in unterschiedlichen Rohdatenkonvertern öffnet. Jeder Rohdatenkonverter interpretiert die Daten ein wenig anders. Daher sehen die Bilder auch unterschiedlich aus, obwohl man noch gar keine Einstellungen vorgenommen hat.
Was sieht die Kamera und was sehe ich?
Wer seine Fotos nicht bearbeiten will, geht davon aus, dass die Kamera unbestechlich ist und die Wirklichkeit genau so wahrnimmt wie er oder sie selbst. Das ist, vorsichtig ausgedrückt, ein wenig naiv. Hier mal ein zugegebenermaßen recht extremes Beispiel:
Dieses Foto von Rockfleet Castle im County Mayo, Irland, wurde bei Gegenlicht aufgenommen. So sieht es aus, wenn man es mit den Standardeinstellungen in Lightroom importiert hat. Aber so habe ich es vor Ort beim besten Willen nicht wahrgenommen. Mein Auge/Gehirn hat natürlich die Details der Burg in allen Einzelheiten gesehen. Auf dem Bild ist sie dagegen ein dunkler, fast strukturloser Fleck. Die Hügel im Hintergrund waren saftig grün und gelb. Der Himmel war nicht einfach eine hellgraue Fläche, sondern zeigte dank eines abziehenden Schauers erste Ansätze von Blau und sogar ein paar Schäfchenwolken.
Dieses Bild ist aus meiner Sicht ein typisches Beispiel dafür, dass Bildbearbeitung notwendig ist, um das Foto an meine Wahrnehmung anzupassen, denn so habe ich die Szene nicht erlebt. Dass ich die Szene ganz anders wahrgenommen habe, ist natürlich der überlegenen Signalverarbeitung unseres Gehirns zu verdanken, die es ermöglicht, sehr große Kontrastunterschiede problemlos zu verarbeiten. Wenn ich das Motiv so wahrgenommen hätte wie die Kamera, hätte ich vermutlich gar kein Foto gemacht, so trist sieht es aus.
Hier die bearbeitete Version von Rockfleet Castle :
So passt es. Und ja, ich bin mir bewusst, dass nicht jeder die Szene so interpretiert, wie ich es hier getan habe.
Ach ja, es ging ja um „Out of Cam“. Mir scheint, das ist wieder so ein heiliger Gral der Fotografie. Nur wer OOC fotografiert ist ein richtiger Fotograf. Äh, das gilt natürlich nur, wenn er oder sie auch konsequent den manuellen Belichtungsmodus verwendet…
Was meint ihr?
Ich habe bislang meine Fotos nicht bearbeitet, weil mir die Zeit und das Equipment fehlt. Dank der 2 Kartenslots meiner Sony Alpha 7iii nehme ich aber alles parallel in jpg und RAW auf. Früher oder später werde ich die besten meiner Fotos dann auch nachbearbeiten.
Insbesondere, das, was in dem Artikel beschrieben wird (anpassen des OOC-Ergebnisses an den subjektiven Bildeindruck beim fotografieren) führt ja eigentlich zu natürlicheren Fotos. Die Kombination Auge/Hirn kann halt mehr, als ein Kamerasensor und die eher zurückhaltende Programmierung der meisten DSLR/DSLM.
Smartphones nutzen demgegenübermeist „zuviel KI“, was dann zu unnatürlich wirkenden Fotos führt. Leider gewöhnen sich immer mehr an diesen „Look“ und finden diesen auch noch schön(er).
Und – wohl aus gleichem Grund gehen auch viele LR-Jünger „zu weit“ und imitieren IPhone, Samsung & Co.-Smartphone-Look. Und – das ist dann „Wasser auf fie Mühlen“ der OOC-Jünger.
Mein Votum: so viel Bearbeitung als nötig, so wenig wie möglich.
Danke für diese Überlegungen zum Thema. Ich stimme zu, dass die Bearbeitung nicht zu weit gehen sollte, wenn man einen halbwegs natürlichen Look haben möchte. Und ich bin normalerweise bei einem durchschnittlichen Foto in ein bis zwei Minuten mit der Bildbearbeitung fertig. Schwierige Fotos wie das in diesem Beitrag können schon mal ein wenig mehr Zeit benötigen
Andererseits darf aber jeder seine Bilder nach seinem persönlichen Geschmack auch totbearbeiten. Es gibt halt immer wieder irgendwelche Trends (ich sage nur HDR-Look), die aber meistens irgendwann wieder verschwinden. Aber Fotografie ist ja nicht nur Dokumentation. Unter künstlerischen Aspekten ist alles erlaubt. Es muss halt nicht jedem gefallen.
Beste Grüße aus Syke
Rainer