Ein Waldweg in der Dämmerung und zwei Wanderer. An sich ein recht banales Motiv. Aber mit langer Belichtungszeit aus der Hand fotografiert wird aus einem fotografischen Abbild ein fast schon surreal anmutendes Bild, das mit der wahrgenommenen Realität wenig zu tun hat.

Eine Frage der Wahrnehmung

Viele Fotografen meinen, die Fotografie würde die Wirklichkeit abbilden. In gewissen Grenzen ist das sicherlich so. Aber Mensch und Kamera nehmen dieselbe Realität durchaus unterschiedlich war.

Eine lange Belichtungszeit, wie bei dem Foto der Wanderer, zeigt uns etwas, was wir mit eigenen Augen so nicht wahrnehmen können. Unser Gehirn erzeugt auch bei schlechten Lichtverhältnissen immer ein klares, nicht verschwommenes Bild (auch wenn es bei ganz wenig Licht irgendwann nicht mehr farbig ist…). Die Wischspuren und Transparenzen des Fotos, erzeugt durch die lange Belichtungszeit, sind unserem Gehirn fremd.

Aber auch das Gegenteil, nämlich eine sehr kurze Belichtungszeit, ist mit unserer Wahrnehmung nicht mehr vereinbar. Vor Erfindung der Fotografie war nicht klar, wie sich die Beine von Pferden im Galopp tatsächlich bewegen. In historischen Gemälden und Zeichnungen ist die Beinstellung oft völlig anders, als wir es heute kennen. Unser Hirn kann die schnelle Bewegung beim Galopp einfach nicht auflösen. Erst die Fotografie hat uns gezeigt, wie der Bewegungsablauf wirklich ist.

Pferd im Galopp

Ok, ok, das hier ist ein trabendes Pferd, aber ihr versteht die Idee, oder?

Selektive Schärfe

Auch die selektive Schärfe ist erst durch die Fotografie in die Welt gekommen. Unser Auge/Gehirn nimmt immer alles als scharf war. Zwar hat das Auge eine inherent geringe Schärfentiefe, aber da es ständig in Bewegung ist und permanent neu fokussiert, wirkt für uns die ganze Szene scharf. Ein Foto dagegen zeigt ja bekanntlich je nach Blende eine unterschiedliche Schärfentiefe. Das Foto des kleinen Löwen wurde mit Blende 4 aufgenommen und hat daher eine selektive Schärfe.

Löwenbaby

Fotografen nutzen diesen Effekt gerne. Aber ist das wirklich die Realität? Oder doch vielleicht ein fotografisches Konstrukt jenseits der Wirklichkeit?

Auch hier sei auf Gemälde verwiesen, die vor der Erfindung der Fotografie entstanden sind. Alle diese Gemälde haben eine durchgängige Schärfentiefe. Die Maler früherer Generationen konnten sich den Effekt der selektiven Schärfe einfach nicht vorstellen.

Weitwinkel

Ein weiteres Beispiel für die unterschiedliche Wahrnehmung von Mensch und Kamera betrifft den Einsatz von Weitwinkelobjektiven. Sobald der Bildwinkel eines Objektivs deutlich größer wird als der Sehwinkel des menschlichen Auges, sind die entstehenden Fotos nicht mehr mit unserer Wahrnehmung vereinbar. Wir können zwar problemlos einen kleinen Ausschnitt aus einer Szene wahrnehmen, also ein Teleobjektiv „simulieren“, aber einen Bildwinkel der größer als der des Auges ist, können wir nur durch die Bewegung des Kopfes erzeugen. Die optische Wirkung eines Weitwinkelobjektives erzeugt diese Kopfbewegung allerdings nicht.

Markusplatz, Venedig

Diese Aufnahme des Markusplatzes in Venedig entstand mit einem 16 mm Objektiv (an Vollformat). Der Bildwinkel dieses Objektivs ist um einiges größer als der Bildwinkel des Auges. So kann nur die Kamera diese Szene wahrnehmen.

Fazit

Die fotografische Abbildung der Realität ist ein hehres Ziel. Aber es scheitert nicht selten (immer?) an der Tatsache, dass unsere persönliche Wahrnehmung und die der Kamera einfach nicht identisch sind.

Habt ihr Gedanken zu diesem Thema? Wir freuen uns über jeden Kommentar.